
Auf das Beste zu hoffen ist kein Plan – Deutschland muss handeln, um die Ostsee zu retten
Brief von MdEP Jutta Paulus, MdEP Isabella Lövin und MdB Jan-Niclas Gesenhues zu den Verhandlungen der Fangquoten in der Ostsee:
Die Lage in der Ostsee ist düster. Küstenfischer berichten, dass ihre Netze leer sind. Die Bestände stehen kurz vor dem Zusammenbruch. Besondern frustrierend ist der Déjà-vu Effekt. Wie kommt es, dass Deutschland, das vom de facto Verschwinden des Dorsches schwer getroffen wurde, die Bewirtschaftung der Heringsbestände nicht radikal verändert?
In Schweden ist die öffentliche Meinung unabhängig von der politischen Zugehörigkeit einheitlich: die Einstellung der industriellen Fischerei bis zur Erholung der Bestände. Aber Schweden steht mutterseelenallein da. In anderen Ländern herrscht ohrenbetäubendes Schweigen.
Noch vor wenigen Jahrzehnten waren die Fischernetze der Ostsee prall gefüllt mit Dorsch. Heute sind die Bestände um ein vielfaches geringer. Damals wie heute erhielten die Politiker wissenschaftliche Empfehlungen als Grundlage für ihre Quotenentscheidungen – Empfehlungen, die auf einer schlecht gestellten Frage beruhten: Wie kann man die Fänge maximieren. Das Ergebnis waren Jahre widersprüchlicher Botschaften, bis nichts mehr zu sagen war. Der Dorschbestand war bereits zusammengebrochen. Dasselbe geschieht jetzt mit dem Hering. Wir sind schmerzlich nahe daran, den gleichen Fehler zu wiederholen.
Erst letzte Woche traf sich die Welt in Nizza, Frankreich, um die Arbeit zum Schutz und zur Wiederherstellung unserer Ozeane zu verstärken. Dort legte die Europäische Kommission einen neuen „Ozeanpakt“ vor, um die Bewirtschaftung unserer Ozeane zu verbessern. Die akute Krise in der Ostsee wird in diesem Pakt besonders hervorgehoben. Deutschland war in Nizza mit dem Forschungsschiff Meteor als Plattform für Tagungen und Seminare sichtbar vertreten. Reden wurden gehalten, aber auch starke Verpflichtungen wurden gemacht und alle waren sich einig, dass sie bereit sind zu handeln. Und die Chance zu handeln ist hier und jetzt.
An diesem Donnerstag treffen sich die EU-Länder rund um die Ostsee in Berlin, um Verhandlungen über die Fangmöglichkeiten in der Ostsee im nächsten Jahr aufzunehmen. Das Treffen markiert den Beginn der jährlichen Quotenverhandlungen, ein Prozess, der im Oktober endet, wenn die EU-Fischereiminister endgültig entscheiden, wie viel gefischt werden darf. Trotz der Dringlichkeit der Situation laufen diese Verhandlungen Gefahr, im „Business as usual“ stecken zu bleiben.
Heute bitten wir Wissenschaftler darum den Entscheidungsträgern mitzuteilen, wie viel Fisch von jeder Art gefangen werden kann, ohne dass der Bestand zusammenbricht – anstatt zu fragen, wie viel Fisch genommen werden kann, um sicherzustellen, dass die Bestände auf ein stabiles und lebensfähiges Niveau gebracht werden können und dass die Entwicklung des Meeres im Allgemeinen nachhaltig ist. Das ist ungefähr so, als würde man fragen, wie wenig Sie essen müssen, um noch zu überleben, anstatt zu fragen, wie viel Ihr Körper braucht, um stark zu sein und sie sich gut fühlen. Es versteht sich von selbst: Ein solcher Ansatz ist zum Scheitern verurteilt.
Wenn der ökologische Zustand der Ostsee so schlecht ist, wenn mehrere Heringsbestände kurz vor dem Zusammenbruch stehen und die Heringsfischerei um die deutsche Küste bereits eingestellt wurde, müssen Initiativen ergriffen werden, um von der nicht nachhaltigen Fischerei abzurücken. Hier muss Deutschland gemeinsam mit Schweden und anderen Mitgliedstaaten handeln.
Deutschland muss einen viel langfristigeren und verantwortungsbewussteren Ansatz unterstützen, bei dem Wissenschaftler damit beauftragt werden, Entscheidungsträger so zu beraten, dass sich die Ostsee erholen kann.
Ein erster Schritt besteht darin, gemeinsam mit Schweden die dringende Erarbeitung wissenschaftlicher Gutachten für einen Wiederherstellungssplan zu fordern. Wenn die Europäische Kommission nicht bereit ist, tätig zu werden, können Deutschland und Schweden selbst eine aktualisierte Analyse des ICES beantragen.
Zweitens muss Deutschland jetzt handeln, um keine erhöhten Fangquoten zu akzeptieren, bis wir solche Wiederherstellungspläne haben. Es bedarf einer langfristigen Perspektive, Strategie und Mut, um neue Arbeitsweisen in der EU-Zusammenarbeit anzustreben. Meerespolitik muss das ganze Jahr über verfolgt werden.
Wir müssen aufhören, auf das Beste zu hoffen und auf die Unsicherheit reagieren, mit der wir konfrontiert sind, mit einem Meer, das sowohl von von hohen Nährstoffeinträgen als auch vom Klimawandel sehr hart getroffen wird. Der Hering braucht keine Worte mehr, er braucht jetzt Taten.