Ampel-Koalitionsvertrag – Meine Einschätzung

Es waren nicht die besten Voraussetzungen, mit denen wir in die Koalitionsverhandlungen gestartet sind. Zwar hatten wir unser bestes Wahlergebnis seit der Gründung unserer Partei eingefahren, aber wir waren angetreten, um um Platz 1 zu kämpfen. Gemessen an diesem Anspruch war der dritte Platz nicht zufriedenstellend, und auch deshalb waren wir in der öffentlichen wie medialen Wahrnehmung „die Verlierer der Wahl“.

Die Verhandlungen selbst wurden sehr schnell und hochprofessionell aufgesetzt. Ich habe in dieser Zeit hunderte Seiten gelesen: Hintergrundpapiere, Parteibeschlüsse, Studien, Textvorschläge. An dieser Stelle noch einmal tausend Dank an die wunderbaren Mitarbeiter*innen! Ihre Arbeit war unersetzlich für unsere Erfolge.

Denn entgegen der Wahrnehmung, dass es sich beim Koalitionsvertrag um „gelbe Seiten“ handelt, haben wir große Erfolge hineinverhandeln können.

Als Europaabgeordnete freut mich besonders, wie progressiv das Europakapitel geraten ist. Von transnationalen Listen über das klare Bekenntnis zur Rechtsstaatlichkeit, von der Stärkung des Europaparlaments über die einklagbare EU-Grundrechtecharta, die Bekämpfung sozialer Ungleichheit und den starken EU-Katastrophenschutz – dieses Kapitel zeigt, dass die Koalition gewillt ist, sich aktiv und zukunftsgerichtet in der Europäischen Union einzubringen. Zur Ehrlichkeit gehört aber, dass viele Punkte einer Vertragsänderung bedürfen und deshalb vermutlich nicht innerhalb dieser Legislaturperiode umgesetzt werden können. Was aber kristallklar ist: nach der Europawahl 2024 wird das Vorschlagsrecht für den/die deutsche/n EU-Kommissar/in bei uns Grünen liegen; es sei denn, Frau von der Leyen wird von ihrer Parteienfamilie als Spitzenkandidatin nominiert und gewinnt die Wahl,  denn wir Grüne machen uns schon lange stark für das europäische Spitzenkandidatensystem.

Mein Herzensthema ist aber die Umweltpolitik. In unserer Fachverhandlungsgruppe haben wir die Themen Naturschutz, Meeresschutz, Klimaanpassung, Chemie und Schadstoffe, Wald und Jagd besprochen. Angesichts der Vorgaben, wie viel Text maximal abgeliefert werden durfte, sind viele unstrittige Punkte unerwähnt geblieben. Aber im Bereich Naturschutz haben wir einen Paradigmenwechsel erreicht. Und es gibt viel aufzuholen! Nicht umsonst laufen etliche EU-Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland, weil beispielsweise die Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie fast 30 Jahre nach ihrer Verabschiedung noch immer nicht vollständig umgesetzt ist. Es gilt auch, die Bundesländer stärker zu unterstützen. Denn oft fehlt in den Haushalten schlicht das Geld, um beispielsweise Pufferzonen um Schutzgebiete einzurichten. Zusätzlich wird es zukünftig Programme für Landwirtinnen und Landwirte geben, die über die gesetzlichen Vorgaben hinausgehende Naturschutzmaßnahmen durchführen. Dazu passt die Festschreibung eines nachhaltigen Landwirtschafts- und Ernährungssystems als Schwerpunkts-Forschungsfeld.

Die bisherigen Programme des Umweltministeriums werden in einem Bundesnaturschutzfonds gebündelt und geeignete bundeseigene Flächen im Außenbereich werden dem Naturschutz zur Verfügung gestellt. Mit dem Aktionsprogramm Natürlicher Klimaschutz, bestehend aus Programmen für Moore und Feuchtgebiete, Grünland und Auen setzen wir auf naturbasierte Lösungen. Diese Ökosysteme sind nicht nur wichtig für die Bekämpfung des Artensterbens, sie helfen uns auch in der Klimakrise. Denn sie binden CO2 in Böden und mildern Hitzewellen oder Starkregenereignisse. Einen besonderen Fokus legen wir auf Moore: ihr Schutz liegt im öffentlichen Interesse und bekommt damit einen wichtigen rechtlichen Status. Bei der dringend notwendigen Renaturierung von Mooren machen wir Tempo. Gemeinsam mit den Menschen in den Regionen werden wir Perspektiven entwickeln. Landwirtinnen und Landwirte können zu „Klimawirten“ werden, die mit Paludikultur wiedervernässte Moorböden bewirtschaften und für ihre Produkte einen Absatzmarkt finden. Denn wir haben auch festgeschrieben, dass die öffentliche Hand ihre Beschaffung nach Nachhaltigkeitskriterien ausrichten muss.

Endlich kommt auch ein Klimaanpassungsgesetz, mit Aktionsplänen und einheitlichen Bewertungsmaßstäben für Hochwasser- und Starkregenrisiken sowie Entsiegelungsprogrammen. Zukünftig wird es auch weniger Ausnahmen für das Bauen in gefährdeten Gebieten geben. Das wird vielleicht manchen Kommunen nicht gefallen; sie werden aber bei ihren Investitionen in Klimaresilienz-Maßnahmen endlich finanziell unterstützt. Denn der Schutz vor Extremwetter darf keine Frage des kommunalen Geldbeutels sein!

Unsere Wälder sind in Not, das kann jede und jeder sehen. Wir brauchen artenreiche Mischwälder, die besser mit Extremwetter und Dürre klarkommen. Deshalb wird es finanzielle Unterstützung für den Waldumbau sowie für Neu- und Wiederbewaldung geben – aber nur nach strengen Kriterien, damit eine positive Wirkung für Klima- und Artenschutz erzielt wird! Der Wald in Bundesbesitz soll nach höchsten Standards bewirtschaftet werden. Den wertvollen Rohstoff Holz wollen wir im Bau verwenden und Holzabfälle zu weiteren Produkten verarbeiten.

Nord- und Ostsee bekommen eine Meeresstrategie mit einem Meeresbeauftragten, die Ausweisung von 10 Prozent der deutschen Ausschließlichen Wirtschaftszone als strenges Schutzgebiet und – endlich! – die Bergung der Munitionsaltlasten, die Mensch und Tier gefährden.

Im Bereich Wasser konnten wir erreichen, dass der Gewässerschutz durch eine Novelle des Abwasserabgabengesetzes gestärkt wird. Ebenso sollen wassergefährdende Stoffe auf essentielle Anwendungen beschränkt und Arzneistoffe in Oberflächenwasser besser überwacht werden. Aber die erweiterte Herstellerverantwortung, nach der die Hersteller sich an zusätzlichen Reinigungsleistungen für problematische Stoffe beteiligen müssten, war nicht durchsetzbar. Zumindest wird Deutschland auf europäischer Ebene zukünftig für ein Verbot von bewusst beigefügtem Mikroplastik und flüssiger Polymere eintreten. Und gefährliche Chemikalien dürfen zukünftig nur nach einer Risikobewertung zugelassen werden.

Leider haben wir im Bereich Luftreinhaltung unser Ziel nicht erreichen können. Die Weltgesundheitsorganisation hat kürzlich neue Richtwerte für Luftschadstoffe veröffentlicht, und die EU-Kommission wird nächstes Jahr einen Vorschlag für die Neufassung der Luftreinhalterichtlinie veröffentlichen. Dieser wird vom Europaparlament und dem Rat der Mitgliedsstaaten beraten. Ideal wäre gewesen, wenn sich Deutschland an dieser Stelle für die Angleichung der Grenzwerte an die WHO-Werte einsetzen würde. Der Kompromiss ist jetzt, dass die Standards schrittweise erreicht werden sollen. Und der jahre- bis jahrzehntelange Bruch von EU-Recht wird auch beendet: die Minderung von Ammoniakemissionen und die Festschreibung angemessener Grenzwerte für Kraftwerke stehen jetzt im Vertrag.

Ein wichtiger Punkt ist der Ressourcenschutz. Erstmals (!) steht das Ziel der Senkung des Rohstoffverbrauchs in einem Koalitionsvertrag. Produkte müssen langlebig, wiederverwendbar, recycelbar und möglichst reparierbar sein. Ein neues Recyclinglabel und der digitale Produktpass ermöglichen die Verwertung von Geräten und Produkten, die heute oft noch geschreddert werden. Es wird gesetzliche Ziele für die Abfallvermeidung und höhere Recyclingquoten geben. Und – last but not least – endlich eine europaweite Begrenzung von Abfallexporten. Denn was heute „zum Recycling“ in den Globalen Süden verschifft wird, landet oft auf wilden Müllkippen. Zukünftig muss klar angegeben werden, welcher zertifizierte Recyclingbetrieb sich um die Abfälle kümmert.

Umweltpolitik wird in der Europäischen Union maßgeblich auch von Brüssel aus festgelegt. Das heißt allerdings nicht, dass Deutschland da nicht mitreden kann. Denn im Rat der Mitgliedsstaaten hat Deutschland als bevölkerungsreichstes EU-Land eine starke Stimme. Mit diesem Koalitionsvertrag schreiben wir an vielen Stellen fest, dass Deutschland seine Bremser-Rolle aufgibt und auch auf europäischer Ebene ambitioniert für den Schutz unserer Überlebensgrundlagen eintritt.

Last but not least: Ich bin ungeheuer froh, dass im Umweltministerium zukünftig zwei starke, engagierte und fachlich hochkompetente Frauen all diese Punkte umsetzen werden.

Steffi Lemke wird eine großartige und durchsetzungsstarke Ministerin sein. Bettina Hoffmann wird sie als Parlamentarische Staatssekretärin fachkundig unterstützen. Ich bin ein bisschen stolz, dass ich mit Euch zusammen verhandeln durfte.