Mythen rund um die Atomenergie

Aufgeklärt von Jutta Paulus MdEP

 

Mythos 1: Deutschland hat mehr fossile Brennstoffe gebraucht, um Atomenergie zu ersetzen.
Falsch. Seit 2007 verringerte sich der Anteil von Atomenergie bei nahezu gleichbleibendem Anteil der fossilen Erzeugung bis 2018, wohingegen der Anteil an erneuerbaren Energien stetig steigt. Siehe Grafik von Statista (2022): Bruttostromerzeugung in Deutschland nach Energieträger in den Jahren 2000 bis 2021 (in Terawattstunden).
Die deutsche Stromversorgung brauchte 2023 so wenig Kohle wie seit über 60 Jahren nicht mehr. Wind- und Solarkraft stemmten dafür den Hauptanteil der Stromversorgung. Quelle: gruene.de (2023): Bestwerte für erneuerbare Energien bei Stromerzeugung 2023

 

Mythos 2: Atomkraft ist kostengünstig.
Falsch. Beispiel Hinkley Point C in Großbritannien zeigt, dass der Neubau von Atomkraftwerken ohne massive staatliche Förderung nicht machbar ist. Der Deal umfasst eine Kreditgarantie von mehr als 20 Milliarden Euro zur Absicherung der Baukosten, dazu kommt die staatliche Übernahme der Endlagerung und der Haftung. Die Einspeisevergütung für den erzeugten Atomstrom beträgt garantierte 11 Cent pro kWh (in Preisen von 2012, entspricht heute 14 Cent) über 35 Jahre plus Inflationsausgleich. Im Vergleich dazu erhält eine große Photovoltaik-Anlage in Deutschland derzeit rund 5 Cent pro kWh über 20 Jahre ohne Inflationsausgleich. Quelle: Energiewende-Magazin (2016): Hintergrund: Hinkley Point C

 

Mythos 3: Ausstieg aus fossilen Energien geht nicht ohne Atomstrom.
Falsch. Ergebnisse der Greens/EFA Studie (2022) bestätigen, dass eine sehr ehrgeizige Energiewende hin zu 100 % erneuerbaren Energien bis 2040 technisch machbar und wirtschaftlich tragfähig ist. Die Studie wurde auf der Datenbasis von realen Wetterdaten mit stündlicher Auflösung des Dargebots an Sonnen- und Wind und des industriellen Verbrauchs erstellt. Für Südeuropa wurde sogar die zukünftig erforderliche energieaufwändige Trinkwasser-Entsalzung eingerechnet.
Unabhängig von der Kostenfrage dauert der Bau von Atomkraftwerken viel zu lang, um nennenswert zur Erreichung der Klimaziele beitragen. Der Bau von Hinkley Point C wurde 2013 genehmigt, die geplante Fertigstellung war 2023. Mittlerweile geht der Projektierer Electricité de France von einer Inbetriebnahme frühestens 2029 und von einer Kostensteigerung von ursprünglich 19 Mrd. € auf 50 Mrd. € aus. Auch die anderen europäischen Projekte (Olkiluoto, Flamanville) hatten mit massiven Kostensteigerungen und Bauverzögerungen zu kämpfen. Quelle: Greens/EFA study (2022): Beschleunigung der Umstellung auf erneuerbare Energien in Europa. Zusammenfassung für politische Entscheidungsträger

 

Mythos 4: Kleine modulare Reaktoren (SMR) werden billig und breit verfügbar sein.

Falsch. Das Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE) hat in einer Studie ermittelt, dass die erwarteten Skaleneffekte erst ab 3000 gebauten Reaktoren eintreten würden. Vorher wäre der in SMR produzierte Strom teurer als der aus „klassischen“ großen Atomkraftwerken. Quelle: Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (2024): Analyse und Bewertung des Entwicklungsstands, der Sicherheit und des regulatorischen Rahmens für sogenannte neuartige Reaktorkonzepte Obwohl praktisch keine kleinen modularen Reaktoren (SMRs) weltweit gebaut wurden, dominieren SMRs weiterhin die Schlagzeilen der Medien. Die einzigen derzeit laufenden SMRs ist der Hochtemperatur-gasgekühlte Reaktor in China und die KLT-40S-Einheiten in Russland. Berichte internationaler Organisationen wie der Nuclear Energy Agency (NEA) und der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) listen Dutzende von SMR-Designs auf, die von privaten und öffentlichen Unternehmen entwickelt werden. Viele dieser Designs wurden aufgrund von technischen Hürden aufgegeben. Generell besteht eine erhebliche Diskrepanz zwischen der Realität vor Ort und dem, was solche Behörden und die allgemeine Medienlandschaft über SMRs berichten. Quelle: The World Nuclear Industry. Status Report (2023), S. 316. Das einzige halb kommerzielle Projekt mit 50 % staatlicher Förderung in Oregon, USA wurde im November 2023 wegen technischer Probleme und hoher Kosten abgesagt. Quelle: SES (2023): US-Atomindustrie erleidet Schiffbruch mit SMR-Projekt Die Angebliche Verbrennung von Atommüll erfordert eine Wiederaufarbeitungsanlage, um die Isotope zu trennen. Die Wiederaufbereitungsanlagen können nur einen geringen Anteil recyclen und führen zu weiteren Umweltproblemen durch radioaktives Abwasser. Quelle: Greenpeace (2005): Wiederaufarbeitung: die wichtigsten Fakten

 

Mythos 5: Atomkraft ist ein verlässlicher, wetterunabhängiger Energieträger, komplementär zu erneuerbaren Energien.
Falsch. Aufgrund von periodischen Wartungen und mit zunehmendem Alter immer häufiger auftretenden Störungen steht Atomstrom im Schnitt mehr als ein Fünftel der Zeit nicht zur Verfügung,
ein Rekord im Vergleich zu anderen Stromquellen. Dazu hat beispielsweise das Deutsche Institut für Wirtschaft (DIW) geforscht. Quelle: DIW Berlin (8/2021): Zehn Jahre nach Fukushima – Kernkraft bleibt gefährlich und unzuverlässig
Das es noch schlimmer kommen kann, hat sich in Frankreich 2022 gezeigt. Bis zu 32 von 56 Reaktoren waren nicht am Netz, und das Land war auf hohe Stromimporte angewiesen (was auch in den Nachbarländern zu hohen Strompreisen geführt hat. Das lag zum einen an Korrosionsschäden in mehreren alten Reaktoren, zum anderen an einer andauernden Hitzewelle im Sommer. Denn Atomkraftwerke kommen mit den Auswirkungen der Klimakrise, Hitze und Wassermangel nicht gut zurecht: Um ungestört zu laufen, brauchen sie milde Temperaturen und reichlich Kühlwasser, in der Regel aus Flüssen. Nicht nur in Frankreich wird die Wasserversorgung aber durch die Klimakrise immer unberechenbarer. Quelle: Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen: Fragen und Antworten zur Atomkraft

 

Mythos 6: Atomkraft macht uns unabhängig.
Falsch. 91 % der Uranimporte in die Europäische Union kamen 2022 aus Kasachstan, Niger, Kanada und Russland. Quelle: Statista (2024): EU-Importe von Uran nach Herkunftsländern Hochangereichertes Uran, was für SMRs gebraucht würde, könnte derzeit nur aus Russland bezogen werden. Quelle: European Parliament (2024): Strategic autonomy and the future of nuclear energy in the EU Nach dem Militärputsch in Niger 2023 wurde der Uranexport nach Frankreich verboten. Frankreich verfügt zwar über Uranreserven für zwei Jahre. Allerdings kann der Putsch in Niger eine Herausforderung für Europas langfristigen Uranbedarf darstellen und Auswirkungen auf die Geschwindigkeit bei der Verringerung der Abhängigkeit von Russland haben. Quelle: Politico (2023): Niger coup sparks concerns about French, EU uranium dependency