SOER-Bericht 2020, Teil 1/11:: Artenvielfalt und Natur

Bild:Blick_von_der_Wegelnburg_nach_Norden -H.Schreiber

Artenvielfalt und Natur

Artenschutz – Chancen und Probleme am Beispiel Biosphärenreservat Pfälzer Wald/Nordvogesen
Eines der europäisch geschützten Flora-Fauna-Habitat-Gebiete ist das deutsch-französische Biosphärenreservat Pfälzer Wald-Nordvogesen. Dieses Gebiet im größten zusammenhängenden Waldgebiet Deutschlands umfasst von Nord nach Süd drei große Waldbereiche um Johanniskreuz, Hinterweidenthal und das Dahner Felsenland sowie einige kleinere Waldbestände und Wiesentäler von insgesamt rund 180 000 ha. Hier finden sich die meisten unterschiedlichen Lebensraumtypen trockener bis feuchter Standorte in Rheinland-Pfalz. Auch die Anzahl der im Gebiet vorkommenden Tierarten des Anhangs II der FFH-Richtlinie ist weit überdurchschnittlich. Streng geschützte Tierarten wie Mopsfledermaus und Bachneunauge haben hier ihre Lebensräume, Luchse wurden erfolgreich wieder angesiedelt. Neben diesen Leitarten profitieren aber auch viele weitere Tiere und Pflanzen vom Status des Schutzgebietes. Die größte Bedrohung ist der Straßenverkehr, insbesondere der vierspurige Ausbau der Bundesstraße 10, sowie die französische Autobahn um Straßburg. Daher befinden sich viele bedrohte Arten trotz weiträumiger Schutzzone in schlechtem Erhaltungszustand.

Ausweisung von Schutzgebieten

Auf gutem Weg befindet sich derzeit die Ausweisung von Schutzgebieten an Land. Hier wurden von nahezu allen Mitgliedsstaaten europäische und nationale Schutzgebiete ausgewiesen (Natura 2000). Derzeit sind 18 % der Landoberfläche der EU-Mitgliedsstaaten geschützt. Dabei handelt es sich um eine große Anzahl kleiner Schutzgebiete: drei Viertel sind unter 100 ha groß.
Die Natura 2000 Gebiete haben dabei vier positive Effekte:
1) Innerhalb der Mitgliedsstaaten bestehen einheitliche Methoden und Kriterien zur Einrichtung und Erfassung von Schutzgebieten. Dies ist zum Beispiel bei wandernden Arten und grenzüberschreitenden Schutzgebieten von zentraler Bedeutung.
2) neben der Leitart, die den Schutzstatus begründet hat, profitieren zusätzliche Arten von der Ausweisung.
3) 1,2 bis 2,2 Milliarden Besucher besuchen die Natura 2000 Gebiete jährlich. Dadurch wird ein Gewinn von 5-9 Milliarden Euro pro Jahr erwirtschaftet.
4) Der monetäre Wert der verschiedenen Ökosystemleistungen wird auf einen Wert von 200 bis 300 Milliarden Euro pro Jahr geschätzt.

Allerdings fehlt es derzeit an Informationen über die Qualität des Schutzgebiet-Managements: damit ein Biotop erhalten bleibt, muss es oft gepflegt werden; außerdem muss überwacht werden, ob keine Aktivitäten stattfinden, die dem Schutzzweck entgegenlaufen Vernetzung. Ein sichtbarer Indikator ist die Vernetzung der Schutzgebiete. Hier wurde anhand der Wanderentfernung verschiedener Tierarten die Vernetzung der Schutzgebiete geprüft. Das Ergebnis fällt leider noch sehr mager aus. Am schlechtesten sind die Gebiete in den Niederlanden vernetzt (6,7%) am besten mit 25% und mehr in, unter anderem, Deutschland. Hier sind deutlich höhere Werte wichtig, um den genetischen Austausch zu gewährleisten. In Deutschland sind verschiedene Umwelt- und Naturschutzverbände aktiv, die gezielt Flächen ankaufen, um bspw. Wanderkorridore für die Europäische Wildkatze zu schaffen.
Europäisch geschützte Arten und Biotope

Hier zeigt sich ein gemischtes Bild: die bisher getroffenen politischen Entscheidungen sind nicht ausreichend.
Gute Datenlage
Aufgrund der Fauna-Flora Habitat-Richtline (FFH-Richtlinie), dem Rückgrat der europäischen Naturgesetzgebung, sind die Mitgliedsstaaten zu Statusberichten zu Arten und Biotopen an die EU verpflichtet. Hierbei spielen vor allem Daten zu Bestandszahlen, Trends, Belastung, Gefährdungspotential und Maßnahmen eine Rolle. Diese Berichte müssen alle sechs Jahre abgegeben werden. Der zusammenfassende Bericht über den Zeitraum 2013-2018 wird 2020 erwartet.
Bestandssituation
Nach Erkenntnissen der europäischen Umweltagentur sind die meisten Arten und Biotope, die von der FFH-Richtlinie geschützt werden, in einem schlechten Bestandsstatus. Nur 23 % der geschützten Arten befinden sich in einem guten Erhaltungszustand, während 60 % der Arten in einem schlechten Erhaltungszustand sind. Bei den restlichen 7 % – insbesondere Arten, die im Meer vorkommen – fehlen wissenschaftliche Erkenntnisse. Aber insbesondere Fische, Muscheln und Amphibien weisen sehr stark sinkende Bestände auf.
Ähnlich geht es den durch die FFH-Richtlinie geschützten Biotopen. Hier sind nur 16 % der Biotope in einem guten Erhaltungszustand. Moore, Sümpfe und Marschen sind am stärksten gefährdet, dicht gefolgt von Grünland. Zur Beurteilung der Erhaltungszuständen maritimer Biotopen fehlt es an belastbaren europaweiten Daten. Auf der Ebene der Mitgliedsstaaten weisen die maritimen Schutzgebiete jedoch hauptsächlich schlechte Bestandszustände auf, Insgesamt schlechter als die europäischen Biotope an Land.
Die Hälfte der durch die Vogelschutzrichtlinie geschützten Vogelarten sind nicht vom Aussterben bedroht. Nichtsdestotrotz sind 17 % der geschützten Vogelarten gefährdet und weitere 15 % Arten sind extrem gefährdet oder bereits ausgestorben.
Gefährdungsursachen
Gründe für die Bedrohung der genannten Arten und Biotope stehen im Zusammenhang mit Landwirtschaft, verändertem Wassermanagement inklusive übermäßiger Wasserentnahme, Verlust von Lebensraumqualität , Rückgang von Beutetieren sowie Verschmutzung von Oberflächenwasser in den geschützten Biotopen.
Das in der Biodiversitätsstrategie 2010 angestrebte Ziel der „Verbesserung des Erhaltungszustands der durch die FFH-Richtlinie geschützten Arten bis 2020“ wurde nicht erreicht. Dies bedeutet, dass wirksamere Maßnahmen ergriffen werden müssen. Der Direktor der Umweltagentur, Hans Bruyninckx, macht deutlich, dass isolierte Naturschutzmaßnahmen zum Scheitern verurteilt sind, wenn der Erhalt der biologischen Vielfalt in anderen Politikbereichen (Agrar, Verkehr, Siedlungsbau, Gewässerreinhaltung) keine Rolle spielt.

Häufige Arten (Vögel und Schmetterlinge)

Hier stellt der SOER-Bericht einen sehr besorgniserregenden Zustand fest. Ganz offensichtlich konnten die „Allerweltsarten“ durch die bisherigen Maßnahmen nicht geschützt werden. Und die Aussichten sind düster.
Bestandsituation
Langzeitstudien (über 25 Jahre) zu den häufigsten Vogelarten (insbesondere Feldvögel) zeigen ein starkes Absinken der Bestände ohne Anzeichen für eine Erholung. Insbesondere die Feldvögel weisen starke Rückgänge auf: über alle Arten gerechnet beträgt der Rückgang 23%, die Zahl der Brutpaare von Rebhuhn und Kiebitz sind um 90% geschrumpft. – Dabei muss bedacht werden, dass starke Bestandeinbrüche schon lange vor Beginn der Langzeitstudie zu verzeichnen waren. Die Anzahl der Schmetterlinge lag 2017 sogar 39 % unter dem Anfangsjahr der Studie 1990.
Gefährdungsursachen
Grund hierfür ist vor allem die Fragmentierung und Zerstörung natürlicher und halbnatürlicher Lebensräume, hauptsächlich verursacht durch Intensivierung der Land- und Forstwirtschaft, sowie Ausbreitung von Siedlungs- und Gewerbegebieten. Immer größere Felder mit immer weniger „ungenutzten“ Flächen wie Hecken und Magerwiesen sowie immer engere Fruchtfolgen, die den Einsatz von mehr Dünger und Pestiziden erfordern, lassen keinen Raum für Wildkräuter, Insekten und die von ihnen lebenden Vögel. Weiterhin spielen erhöhte Licht- und Lärmemissionen in den sich ausbreitenden Städten eine Rolle.
Insbesondere das Insektensterben ist von weitreichender Bedeutung. Innerhalb der letzten 27 Jahre wurde ein Rückgang von 75 % der Biomasse fliegender Insekten in mehreren Schutzgebieten in Deutschland festgestellt. („Schutzgebiet“ heißt übrigens nicht, dass in diesen Gebieten kein Pestizideinsatz erlaubt ist.) Eine weltweite Auswertung von 73 Studien kommt zu dem Ergebnis, dass die Hauptursache für das Insektensterben der Verlust von Lebensraum durch die Intensivierung der Landwirtschaft, gefolgt von Verstädterung, Eintrag von Chemikalien (vor allem Pestizide und Düngemittel), invasive Arten und dem Klimawandel.
Neonicotinoide
Insbesondere die Nutzung der sogenannten Neonicotinoide, einer bestimmten Pestizidklasse, hat wesentlich größeren Einfluss auf die Biodiversität als gedacht. Oft werden Neonicotinoide als Saatgutbeize eingesetzt: die Samen der Kulturpflanzen werden mit einem Überzug aus Pestizid versehen, um sie vor Fraß zu schützen. Beim Keimen und Wachsen nimmt die Pflanze das Pestizid auf, sodass alle Teile vor Fraßfeinden geschützt sind. Aber nur 5 % des Überzugs werden aufgenommen; der Rest reichert sich im Boden an. Da die Wirkstoffe nur sehr langsam abgebaut werden, können sie in Folgejahren von anderen Pflanzen aufgenommen werden oder wandern in Oberflächen und Grundwasser. Überdies haben Neonicotinoide eine tückische Langzeitwirkung: sie schwächen Nerven- und Immunsystem, sodass bspw. Bienen schlechtere Gedächtnisleistungen zeigen und anfälliger für Krankheiten werden.
Eine niederländische Langzeitstudie zum Zusammenhang von Vogelpopulationen und der Wasserqualität von Oberflächenwasser zeigte ein erhöhtes Vogelsterben bei hohen Konzentrationen von Imidacloprid (weltweit das am häufigsten genutzte Neonicotinoid) im Oberflächenwasser. Die Wissenschaftler nehmen dabei eine Doppelwirkung durch Nahrungsmangel aufgrund fehlender Insekten und die Aufnahme des Gifts durch das Fressen des behandelten Saatguts an.
In der Europäischen Union wurde der Einsatz von vier der fünf Hauptsubstanzen aus der Gruppe der Neonicotinoide endlich verboten – allerdings erst in den letzten Monaten.

Ökosysteme: Zustand und Leistungen

Als Ökosystemleistungen bezeichnet mal alle Vorteile, die Menschen durch funktionierende Ökosysteme erhalten. Z.B. Herstellung von Lebensmitteln und Wasser, Behebung von Fluten, Dürren, Bodendegeneration und Krankheiten, Ressourcenbildung in Form von Bodenbildung und Nährstoffkreislauf und kulturelle Leistungen wie Entspannung, Religiösität und andere nichtmaterielle Leistungen. Die Ökosystemleistungen werden immer dann zum enormen Wirtschaftsfaktor wenn sie ausfallen. Beispiele sind die Jahrhunderthochwässer oder die menschliche Bestäubung von Obstbäumen in China, nachdem die Insekten diese Leistung nicht mehr erbringen könnten. Derzeit zeigt sich bei der Analyse des Zustands und der Leistungsfähigkeiten der europäischen Ökosysteme ein gemischtes Bild mit einzelnen positiven Entwicklungen, dennoch werden die geplanten Maßnahmen zur Stabilisierung der Ökosysteme als nicht ausreichend erachtet, um dieses Ziel zu erreichen.
Wiederherstellung degenerierter Ökosysteme
Der Beobachtung von Ökosystemen als Ganzes wurde bisher wenig Beachtung geschenkt entsprechend lückenhaft sind die vorhandenen historischen Daten. Ziel 2 der EU-Biodiversitätsstrategie nennt die Wiederherstellung von Ökosystemen und ihren Leistungen inklusive grüner Infrastruktur und einer Wiederherstellung von 15 % der als degeneriert klassifizierten Ökosysteme bis 2020. Weiterhin sind die Mitgliedsstaaten dazu aufgerufen, die Zielerreichung innerhalb ihrer nationalen Grenzen zu planen und anzugehen. Allerdings fehlt es an Definitionen und Indikatoren: was genau bedeutet „degradiert“? Wie wird die erfolgreiche Wiederherstellung gemessen? Dies muss in der für dieses Jahr anstehenden „Biodiversitätsstrategie 2020“ genauer dargestellt werden.
Invasive Arten
Weitere negative Einflüsse werden durch invasive Arten, also eingeschleppten Arten, die sich mangels natürlicher Feinde ungehindert ausbreiten können und andere Arten verdrängen, festgestellt. Der monetäre Schaden wird auf mehrere Billionen Euro geschätzt. Aktuell befinden sich 49 Arten auf der Liste der zu beobachtenden invasiven Arten. Um die Schäden für Ökosysteme und Tierbestände zu minimieren, betreibt die EU zahlreiche Initiativen, die vor allem mittel- und langfristig wirken sollen.
Genetische Vielfalt und Bodenvielfalt
Genetische Vielfalt ist der dritte Schlüsselfaktor der Biodiversität und beschreibt die Erbgut-Vielfalt innerhalb einer Spezies. Sie ermöglicht Organismen die Anpassung an eine sich veränderte Umwelt. Werden Lebensräume zerschnitten, findet kein genetischer Austausch zwischen den Teilpopulationen mehr statt. Je kleiner der Genpool, desto anfälliger ist ein Bestand für Krankheiten und Parasiten.
Bei den Nutztierrassen macht sich die Industrialisierung der Landwirtschaft deutlich bemerkbar. Mehr als 130 in Europa bekannte Rinderrassen gelten als ausgestorben. Moderne Pflanzenzüchtung setzt ausschließlich auf Ertrag, Widerstandsfähigkeit gegenüber Krankheiten spielt keine Rolle, da diese mit Pestiziden bekämpft werden. Immer weniger Sorten wachsen auf immer größeren Feldern, und viele traditionelle oder nur lokal verbreitete Sorten sind extrem gefährdet oder bereits ausgestorben.
Wegen des Klimawandels ist die stabilisierende Wirkung und die Notwendigkeit genetischer Vielfalt jedoch wichtiger denn je. Beispielsweise bekommen Tiere und Pflanzen, die mit höheren Temperaturen auskommen oder widerstandsfähig gegen sich ausbreitende Krankheiten sind, eine wichtige Bedeutung.
Bodenvielfalt
Bodenvielfalt ist unverzichtbar für den Nährstoff- und Wasserkreislauf. Vielfältige Bodenlebewesen sichern die Stabilität des Bodens, stärken das Wasserrückhaltevermögen, ermöglichen Nährstoffbereitstellung oder den Abbau von Schadstoffen. Bodenvielfalt ist allerdings ein schwer zu messender Zustand, es gibt aber Hinweise, dass Verschmutzungen durch Metalle und Nanomaterialien die Vielfalt der Bodenlebewesen verringern und dass vielfältiges Bodenleben mehr organisches Material kompostiert und mehr Stickstoff produziert als artenarmer Boden. Die Bodenvielfalt ist durch Erosion, Kontaminierung, Pestizideinsatz und Bodenversiegelung bedroht.

Fazit:

Wenn auch in manchen Bereichen erfolgreich, waren die bisherigen politischen Bemühungen nicht ausreichend, um den Verlust von Artenvielfalt und die Zerstörung von Ökosystemen aufzuhalten. Insbesondere die Grünland-Strategie der Gemeinsamen Agrarpolitik ist ein ineffizientes Werkzeug, das nur auf 5 % des europäischen Agrarlandes positive Veränderungen bewirkt hat. Ökonomisches Wachstum und Umweltverschmutzung sind immer noch – fünfzig Jahre nach dem Bericht des Club of Rome – gekoppelt. Wenn es uns nicht gelingt, die Bewahrung der biologischen Vielfalt in alle Politikbereiche einzubinden, zerstören wir nicht nur „die Natur“, sondern berauben uns auch unserer Überlebensgrundlagen.