SOER 2020- Teil 8 von 11 – Chemische Belastung

Störfälle gibt es auch in Rheinland-Pfalz immer wieder, diese werden vom Land überwacht und bestmöglich vermieden. Die alltägliche Emission chemischer Substanzen und chemische Rückstände sind Thema der europäischen Chemiepolitik, insbesondere der REACH-Verordnung.

Das Kapitel zu chemischen Belastungen befasst sich vor allem mit synthetischen Chemikalien und klammert Dünger und Luftverschmutzungen aus. Diese werden im Kapitel „Land und Boden“ sowie „Luftverschmutzung“ behandelt–

zum Kapitel Land und Boden

zum Kapitel Luftverschmutzung

Die Risikoabschätzung basiert auf der Erhebung der potentiellen Gefährdung, der Freisetzungswahrscheinlichkeit und zieht die Empfindlichkeit der betroffenen Personen und Ökosysteme in Betracht. Eine hohe Freisetzungswahrscheinlichkeit besteht typischerweise bei wiederholter Nutzung, denn so können sich Chemikalien in menschlichem Gewebe oder der Umwelt anreichern.

Politische Landschaft

Das siebte Umweltaktionsprogramm konzentriert sich auf die Minimierung der negativen Effekte von Chemikalienproduktion und -nutzung auf die menschliche Gesundheit und die Stabilität von Ökosystemen. Die wichtigste Umsetzungsnorm ist die REACH-Verordnung zur Regulation der Registrierung, Evaluation, Autorisierung und Restriktion von Chemikalien. Die REACH-Verordnung verpflichtet Unternehmen zur Bereitstellung von Informationen über die potentiellen Gefahren der von ihnen hergestellten oder in der EU vermarkteten Chemikalien. Außerdem müssen schädliche Substanzen nach Möglichkeit durch weniger schädliche ersetzt werden. Im Rahmen der REACH-Verordnung ist für die Verwendung sehr schädlicher Chemikalien eine Genehmigung durch die Europäische Kommission erforderlich. Dabei sind detaillierte Angaben zur beantragten Nutzung, der Nachweis der Nichtverfügbarkeit von Alternativen sowie die geplanten Maßnahmen zum Schutz von Mensch und Umwelt erforderlich. Die Kommission trifft ihre Entscheidung aufgrund der Beurteilung durch den Ausschuss für sozioökonomische Analyse sowie den Ausschuss für Risikobeurteilung. Letzterer ist auch für die Einstufung und Kennzeichnung von Stoffen verantwortlich.

Unterstützt durch die Kennzeichnungsverordnung, sorgt REACH für die Informationsweitergabe entlang des Produktzyklus und die Einhaltung von Sicherheitsstandards.

Zusätzlich sind Nachhaltigkeitsziele der UN wichtige politische Zielvorgaben. So sind vor allem Ziel 3 – die Steigerung der menschlichen Gesundheit, Ziel 6 – gesundes Wasser und Ziel 12 – umweltfreundlicher Konsum und Produktion ohne den Schutz vor chemischen Gefahren nicht erreichbar.

Schlüsseltrends

Zwei Entwicklungen sind besorgniserregend. Die steigenden Mengen verwendeter Chemikalien und die potentielle Gefahr durch die kombinierte Toxizität verschiedener Substanzen. Dabei ist die fehlende Risikoabschätzung das größte Problem. Ausführliche Dossiers gibt es lediglich für 500 chemische Substanzen, die ECHA betrachtet 450 Stoffe als „hinreichend reguliert“. Ca. 10.000 Substanzen wurden hinsichtlich potentiell gefährlicher Eigenschaften recht gut untersucht. Das bedeutet, dass von den 22.600 Substanzen, die unter REACH registriert wurden, der überwiegende Teil trotz des Vorliegens von Daten zu Toxizität oder biologischer Abbaubarkeit noch nicht bewertet wurde – meist, weil keine belastbaren Daten für ihre Freisetzung in die Umwelt vorliegen. Für die große Mehrzahl von 70.000 Substanzen gibt es kaum Informationen bezüglich ihrer gefährlichen Eigenschaften, der Freisetzungswahrscheinlichkeit sowie Wechselwirkungen mit anderen Substanzen. Aufgrund der Vielzahl der Substanzen ist es unrealistisch, sie zu vertretbaren Kosten vollständig zu testen und in der Umwelt zu überwachen. Die vorgeschriebene Kennzeichnung nach CLP (Classification, Labelling and Packaging, also Einstufung, Kennzeichnung und Verpackung von Stoffen und Gemischen) hat einige Lücken, vor allem bezüglich der Klassifizierung von Substanzen mit chronischen Effekten, wie endokrine Disruptoren (hormonähnlich wirkende Stoffe), neurotoxische und immuntoxische Substanzen. Auch schwer abbaubare Substanzen, die sich in der Umwelt anreichern, fallen durchs Raster.Zudem erfolgt die Kennzeichnung aufgrund des Risikoprofils der einzelnen Substanzen, Kombinationseffekte werden nicht erfasst. Daher wird die Gefährdung von Mensch und Umwelt vermutlich noch unterschätzt.

2017 wurden in der EU 282 Millionen Tonnen industrieller Chemikalien produziert und 304 Millionen Tonnen verbraucht. Davon waren 22 % potentiell gefährlich für die Umwelt, und 71 % gesundheitsgefährdend für Menschen. Der Anteil umweltgefährdender Stoffe ist somit von 2008 bis 2017 um 5 % zurückgegangen, der der gesundheitsgefährdenden Substanzen um 6 %. In diesen Zahlen sind Medikamente und Pestizide nicht enthalten, da sie nicht in der REACH Verordnung reguliert werden, sondern in der Arzneimittel- bzw. der Pestizidrichtlinie. Ausgeklammert werden auch Chemikalien, die außerhalb Europas produziert werden, während der Nutzungsphase aber in Europa für Emissionen sorgen. Zusätzlich können außerhalb Europas erzeugte Emissionen lange Strecken zurücklegen und sich auf die europäische Umwelt auswirken.

Datengrundlage Emissionen

Nur sehr wenige umweltwirksame Chemikalien unterliegen einem Monitoring. Im europäischen Schadstoffemissionsregister werden 91 Substanzen oder Substanzgruppen, die von 30.000 Industriestandorten oder Kläranlagen freigesetzt werden, veröffentlicht; 45 besonders wichtige Schadstoffe werden durch die Wasserrahmenrichtlinie überwacht. Weitere Substanzen werden durch das (freiwillige) Wasserinformationssystem erfasst, allerdings ist der Katalog unter den Mitgliedstaaten nicht harmonisiert. Nur 26 flüchtige Schadstoffe werden mit Hilfe des Luftreports im Rahmen des „Übereinkommen über weiträumige grenzüberschreitende Luftverunreinigung“ überwacht.

Ergebnisse:

Luft: Emissionsrückgänge sind bei polychlorierten Biphenylen (PCB), Hexachlorbenzol (HCB) und Quecksilber zwischen 1990 und 2017 um 83%, 96% und 72 % festzustellen. Die Emissionen von Toluol und Blausäure hingegen stiegen um 13-22% an. Schwermetallemissionen haben abgenommen, die ozonzerstörenden Fluorchlorkohlenwasserstoffe sind nahezu verschwunden – aber leider durch klimawirksame Fluorkohlenwasserstoffe ersetzt worden.

Wasser: Die Freisetzung von Schwermetallen ist zurückgegangen; bei den Konzentrationen chlorhaltiger Substanzen zeigt sich ein gemischtes Bild. Pestizide werden nur in wenigen Mitgliedsstaaten überhaupt gemessen.

Boden: Europaweit vergleichbare Daten sind nicht vorhanden, nur für Schwermetalle und Pestizide werden in der „Rahmenvermessung zur Landnutzung und Bedeckung“  zumindest stellenweise erfasst. Hier fehlt eine konkrete Vorgabe zum EU-weiten Monitoring, insbesondere aufgrund der potentiellen Gefährdung der als Trinkwasser genutzten Grundwasserleiter.

Alarmierende Ergebnisse:

Die in Gebäuden, Produkten und Böden bereits vorhandene Belastung durch schwer abbaubare Substanzen lässt befürchten, dass auch bei abnehmender Freisetzung in die Umwelt die Konzentration gefährlicher Stoffe nicht signifikant abnimmt. Zumal mit zunehmenden Auswirkungen des Klimawandels, wie Stürmen und Hochwasser, gebundene Schadstoffe re-mobilisiert werden können.

Das PROMOTE-Projekt des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung beschäftigt sich mit Gefahrstoffen im Oberflächenwasser. Die erschreckenden Fakten: 2014 waren in der REACH-Datenbank mehr als 2500 sehr schwer abbaubare, aber leicht wassergängige Substanzen registriert. Für gerade einmal 57 davon lagen Analysemethoden vor, und von diesen wurden 43 in mindestens einer Wasserprobe gefunden. In der Hälfte aller Wasserproben waren mehr als 20 der problematischen Stoffe nachweisbar. Und bislang muss keine einzige der Substanzen gemäß geltender EU-Vorschriften überwacht werden

Diese Untersuchung und weitere wissenschaftliche Arbeiten haben zum Ruf nach einer Kategorisierung dieser Art von Chemikalien geführt. Nach Ansicht von Wissenschaftler*innen, unter anderem vom Umweltbundesamt, sollten sie den besonders gefährlichen (schwer abbaubaren, giftigen und bioakkumulierenden) Stoffen gleichgestellt werden.

Die zunehmende Entwicklung, Nutzung und Emission von Nanomaterialien mit verschiedenen und unbekannten Auswirkungen als auch der Anstieg von Resistenzen von Pilzen und Antibiotika aufgrund dauerhafter Emission sind weitere Baustellen.

Auswirkungen der chemischen Verschmutzung auf die Umwelt

Das Wissen über die Auswirkungen einzelner Chemikalien und ihrer Abbauprodukte reicht bei Weitem nicht aus, um beobachtete Umwelteffekte bestimmten Chemikalien zuzuordnen. Zudem werden bei ökotoxikologischen Untersuchungen nur die Auswirkungen auf einzelne Spezies geprüft, der Einfluss auf das gesamte Ökosystem ist so nicht abzuschätzen. Die EU versucht das Ziel zu erreichen, dass Pflanzenschutzmittel keine negative Auswirkung auf die menschliche Gesundheit oder die Umwelt haben und nachhaltig eingesetzt werden. Allerdings ist der Einfluss von Pestiziden, insbesondere Neonikotinoiden, auf den massiven Rückgang der Insekten mittlerweile unbestritten. Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) hat Umweltrisiken mittlerweile in ihre Risikobewertung aufgenommen, da sie relevanten Einfluss auf die Lebensmittelproduktion haben können. Zudem hat eine Studie der EFSA einen gesundheitsgefährdenden Einfluss von 212 Chemikalien, die sich in der Nahrungskette anreichern, auf die menschliche Gesundheit gezeigt. Die Top Ten bestanden hauptsächlich aus krebserregenden oder oberflächenaktiven Substanzen.

Einfluss auf die Belastungen in Lebensmitteln haben vor allem vergiftete Böden. 2018 wurde die Zahl der Altlasten-Grundstücke in der EU auf 2,8 Millionen geschätzt. Dies hat signifikanten Einfluss auf die terrestrischen und aquatischen Ökosysteme. Wie gefährlich persistente (schwer abbaubare) Substanzen sind, zeigt sich an der Pestizidbelastung von Trinkwasser in Dänemark und Spanien: die jeweiligen Stoffe werden teils seit Jahrzehnten nicht mehr verwendet.

In der Wasserrahmenrichtlinie sind Grenz- und Schwellenwerte für eine Reihe von Chemikalien festgeschrieben. Diese gelten für Grundwasser und Oberflächengewässer und werden zur Bewertung des „chemischen Zustands“ herangezogen. Die Überwachungsprogramme zeigen, dass eine relativ kleine Zahl von Substanzen für den schlechten chemischen Status von Gewässern verantwortlich ist. Insbesondere Quecksilber, aber auch bromierte Diphenylether (pBDE, aus Flammschutzmitteln), Tributylzinn und polyzyklisch-aromatische Kohlenwasserstoffe sowie Schwermetalle sind am häufigsten in den Gewässern in schlechtem chemischem Zustand gefunden worden. Eine bahnbrechende Studie, in der nach mehr als 200 Stoffen gesucht wurde, zeigt, dass das Ausmaß des Risikos für Wasserorganismen wegen der beschränkten Zahl überwachter Substanzen deutlich unterschätzt wird: in 42 % der untersuchten Gewässer lagen die Schadstoffkonzentrationen oberhalb des Bereichs, in dem Langzeiteffekte für das Ökosystem zu befürchten sind. .Das EU-Projekt „SOLUTIONS and MARS“ hat ergeben, dass durchschnittlich 20% der Spezies in Wasser-Ökosystemen aufgrund chemischer Einflüsse verloren gehen.

Auch das Ziel der Marinestrategie Richtlinie, bis 2020 einen guten ökologischen Zustand in Hinblick auf die Verschmutzung der Meere zu schaffen, ist nicht zu erreichen. Zwar gibt es vereinzelt Fortschritte, insbesondere langlebige und bioakkumulierende Chemikalien wie PCB stellen jedoch nach wie vor eine große Belastung dar. Organismen an der Spitze der Nahrungskette, wie Orcas, sind durch den Einfluss der PCB auf Gesundheit und Fortpflanzung vom Aussterben bedroht.

Einflüsse auf die menschliche Gesundheit

2015 waren 97% der Lebensmittelproben die europaweit genommen wurden mit Pestiziden belastet,. Untersuchungen der WHO haben hunderte von Chemikalien in menschlicher Muttermilch identifiziert, unter anderem PCB, bromierte Flammschutzmittel und fluorierte Substanzen. Besonders problematisch ist Methylquecksilber. Es wirkt neurotoxisch und schädigt die Gehirnentwicklung im Mutterleib sowie bei Babys und Kleinkindern. Hohe Konzentrationen finden sich in Raubfischen, sodass Schwangeren vom Verzehr von Thun- oder Schwertfisch abgeraten werden sollte. Nahezu 1,8 Millionen Babys in Europa, ein Drittel der Geburten, haben gesundheitlich bedenkliche Mengen Methylquecksilber im Blut.

Endokrine Disruptoren wie Phthalate und Bisphenole haben bereits in geringen Dosen langfristige und irreversible Auswirkungen auf das Hormonsystem, teils sogar über Generationen hinweg. Die jährlichen Behandlungskosten der Erkrankungen durch die Exposition gegenüber endokrinen Disruptoren wird auf 157 Milliarden Euro geschätzt. Zumindest Weichmacher aus der Gruppe der Phthalate und Bisphenol A unterliegen durch die REACH-Verordnung mittlerweile Risikominderungsmaßnahmen. In der Gruppe der perfluorierten Substanzen (PFAS) hingegen, die mehr als 4000 Einzelstoffe umfasst, sind trotz der bekannten gesundheitsschädlichen Wirkungen auf Immunsystem und mehrere Organe nur wenige Stoffe streng reguliert. Dabei werden PFAS in vielen Bereichen eingesetzt und reichern sich in der Umwelt an.

Zehn Jahre nach ihrer Einführung ist die REACH-Verordnung vollständig umgesetzt, obwohl die Auswirkungen hinter den ursprünglichen Erwartungen zurückbleiben. Dies liegt vor allem an der unvollständigen Datenlage. Wenn die von den Herstellern oder Importeuren eingereichten Dossiers keine vollständige Risikobeurteilung erlauben, ein hohes Risiko aber nicht ausgeschlossen ist, erlaubt das Vorsorgeprinzip der EU eine vorsorgliche Beschränkung der Nutzung. Diese Möglichkeit wird leider viel zu selten genutzt, wie die Europäische Kommission selbst in ihrer Überprüfung der Wirksamkeit der REACH-Verordnung feststellt.

Das 2013 beschlossene 7. Umweltaktionsprogramm fordert effektives Handeln bezüglich endokriner Disruptoren durch die EU-Gesetzgebung noch in diesem Jahr. Auch das Versprechen einer Rahmengesetzgebung für eine giftfreie Umwelt ist noch nicht umgesetzt. Im Rahmen des Wandels zu einer Kreislaufwirtschaft muss sichergestellt werden, dass toxische Bestandteile von Produkten soweit möglich durch unbedenkliche ersetzt werden. Dafür gilt es, im Rahmen der Chemikalien-Nachhaltigkeitsstrategie den Grundsatz „safe by design“ anzuwenden.

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