Europa der Regionen

Im jüngsten Eurobarometer, der jährlichen Meinungsumfrage des Europäischen Parlaments in allen Mitgliedsstaaten der EU, zeichnet sich ein positiver Trend ab: Jeweils deutlich mehr als die Hälfte der Befragten finden, dass die Mitgliedschaft ihres Landes in der EU eine gute Sache ist, ihr Land von der Mitgliedschaft profitiert und ihre Stimme in der EU zählt. Und gegenüber vorherigen Befragungen steigen die Zustimmungswerte an. Das zeigt, dass die Medienberichte über „EU-Verdrossenheit“ nicht durch Fakten gedeckt sind.

Die Lage der EU

Unumstritten ist, dass die EU angesichts des ökologischen Notstands, des Brexits, der „Flüchtlingskrise“, des Erstarkens rechter Parteien, sowie der finanziellen Schieflage einiger Mitgliedstaaten viele Probleme zu lösen hat und die Gestaltung der Zukunft große Herausforderungen birgt. Seit mehreren Jahren wird in der Öffentlichkeit über die Zukunft der EU debattiert. Spätestens mit der Rede von Emmanuel Macron an der Pariser Sorbonne-Universität und weiteren Initiativen des französischen Präsidenten ist das Thema wieder stärker auf der Agenda der EU-Regierungschef*innen gelandet.

„Ich bin gekommen, um über Europa zu sprechen. ‚Schon wieder‘, werden einige sagen. Sie werden sich daran gewöhnen müssen, denn ich werde damit weitermachen, da doch unser Kampf genau darin besteht. Es ist unsere Geschichte, unsere Identität, unser Bezugspunkt. Es beschützt uns und es bietet uns eine Zukunft.“

Emmanuel Macron

Gerade wir Grüne teilen nicht alle von Emmanuel Macrons Vorschlägen. Der springende Punkt ist aber, dass wir die EU brauchen und sie deshalb weiterentwickeln müssen.

Ein Europa der Regionen

Häufig wird vom „Brüsseler Zentralismus“ oder der „europäischen Bürokratie“ gesprochen. Das sind Kampfbegriffe, mit denen suggeriert werden soll, die EU sei eine nicht demokratisch legitimierte, von oben regierende Truppe von Technokraten, die kein Interesse an den Bedürfnissen der einfachen Leute habe. Mit solchen Aussagen lassen sich vielleicht bestimmte Zielgruppen an die Wahlurnen holen – der Wahrheit entsprechen sie jedoch keineswegs.

Mit dem europäischen Ausschuss der Regionen (AdR) wurde mit der Unterzeichnung des Vertrags von Maastricht (Februar 1992) eine Institution geschaffen, die Entscheidungen in der EU möglichst bürgernah gestalten soll. Die EU-Kommission, der Rat und das Parlament sind verpflichtet, den Ausschuss der Regionen um Stellungnahme zu ersuchen, wenn ein neues Gesetz Auswirkungen auf die regionale und kommunale Ebene haben könnten – und das betrifft drei Viertel aller Gesetze.

Im AdR sitzen Bürgermeister*innen, Abgeordnete in Kommunalparlamenten oder Ministerpräsident*innen. Alles Menschen, die zumeist wissen, wo der Schuh in ihrer Stadt oder Gemeinde, in ihrer Region drückt.

Was die Zukunft bringen könnte

Bürgernähe mittels Vertretung auch durch die regionale Ebene ist ein begrüßenswerter Ansatz! Allerdings sind die Herausforderungen innerhalb der EU zu groß, um sie mit der jetzigen Konstellation von Institutionen und Entscheidungsprinzipien adäquat anzugehen.

Wir brauchen im Ministerrat einen Ausbau des Mehrheitsprinzips: in den Bereichen Außen- und Sicherheitspolitik, aber auch bei der Steuerpolitik herrscht noch immer das Vetorecht der Mitgliedsstaaten. Das blockiert nötige Veränderungen. Wir wollen, dass hier wie bei der Umweltpolitik, der Agrarpolitik oder der Verkehrspolitik die „doppelte Mehrheit“ aus dem Lissaboner Vertrag gilt: Zustimmung durch mindestens 55 Prozent der Mitgliedsländer, die zusammen mindestens 65 Prozent der Bevölkerung repräsentieren. Alle Mitgliedsländer sollten künftig ihre Position, die sie zu EU-Gesetzen in Arbeitsgruppen des Rates vertreten, offenlegen müssen.

Die Legislative, also die gesetzgebende Gewalt, wollen wir zu einem Zwei-Kammern-System umbauen: das Parlament muss gleichberechtigt neben dem Rat stehen. Kommissionspräsident und Kommissare sollten zudem nicht mehr von den Regierungen der Mitgliedsländer vorgeschlagen werden, sondern vom direkt gewählten Parlament.

Gleichzeitig müssen aber auch die Möglichkeiten für Bürger*innen-Beteiligung weiter ausgebaut werden. Dazu gehören europaweite Bürger*innen-Konsultationen und direktdemokratische Verfahren. Die schon bestehende Europäische Bürgerinitiative sollte zu einem wirklichen Beteiligungsinstrument weiterentwickelt werden und die Unionsbürgerschaft sollte auch das regionale und nationale Wahlrecht am Wohnsitz umfassen. All dies schafft mehr europäische Identität im alltäglichen Leben.

Ein Europa der zwei Geschwindigkeiten?

Seit dem Vertrag von Lissabon (2009) gibt es das Instrument der „verstärkten Zusammenarbeit“, mit dem einzelne Staaten in mehr Sektoren tiefer zusammenarbeiten können. Angesichts der Vorschläge von Emmanuel Macron und dem Unwillen einiger Staaten wie Ungarn oder Polen, sich auf weitere Integrationsschritte einzulassen, sollte dies stärker genutzt werden.

Damit könnten einzelne Staaten die Integration vorantreiben, ohne gleich die ganze EU reformieren zu müssen. Dies hätte eine Signalwirkung an andere Mitgliedsstaaten, wenn sich (wie in der Vergangenheit) Vorteile aus der tieferen Integration ergeben.

Dabei ist aber Vorsicht geboten: Wenn sich dadurch Gruppen bilden, die sich voneinander abgrenzen, wird eine neue Desintegrationsdynamik geschaffen. Deshalb müssen bei allen weiteren Schritten die Türen für die übrigen Mitgliedsländer offenbleiben und Kommission, Rat und Parlament zustimmen.

Das deutsch-französische Freundschaftsabkommen

Ein Beispiel für eine solche tiefere Integration zwischen Staaten ist das kürzlich erneuerte deutsch-französische Freundschaftsabkommen, der Aachener Vertrag. Den Vorschlag für die Erneuerung unterbreitete Macron in der genannten Rede an der Pariser Sorbonne Universität. Das Abkommen vereinbart unter anderem die tiefere Zusammenarbeit zwischen Frankreich und Deutschland im Bereich der Außen- und Sicherheits- sowie Verteidigungspolitik aber auch tiefere Kooperation im UN-Sicherheitsrat und die Vereinfachung und Überwindung von Hürden in der deutsch-französischen Grenzregion.

Die Kultur- und Medienlandschaft soll miteinander verzahnt werden und Projekte wie der deutsch-französische Fernsehsender „arte“ mehr Unterstützung bekommen. Der Vertrag behandelt auch Themen wie die grenzüberschreitende Mobilität, insb. den Schienenverkehr oder die Konvergenz der Wirtschaftspolitik der beiden Staaten. Konkret heißt es in Artikel 20, dass die beiden Volkswirtschaften hin zu einem deutsch-französischen Wirtschaftsraum mit gemeinsamen Regeln vertieft werden sollen – ein weitgehender Integrationsschritt, den es auf europäischer Ebene so bisher nicht gibt. Leider wurden Macrons progressive Vorschläge für mehr Zusammenarbeit im Klimaschutz von Deutschland abgelehnt.

In ihren Resolutionen im Januar 2018 hatten der Deutsche Bundestag und die französische Assemblée Nationale den Regierungen ein starkes Mandat erteilt. Es gab klare Mehrheiten für mutige deutsch-französische Vorhaben und gemeinsame Initiativen für Europa. Aus diesem Mandat haben die Regierungen nichts gemacht. Der Aachener Vertrag beschreibt jetzt in schönen Worten den Status Quo, aber lässt echten Fortschritt vermissen

Dennoch zeigt das Abkommen exemplarisch, dass die EU sich weiterentwickeln kann, auch wenn nicht alle Mitgliedsstaaten teilnehmen wollen. Was es also aus meiner Sicht braucht, sind entschlossene Verträge und bilaterale Abkommen zwischen Staaten. Dies kann genau die Signalwirkung senden, um den Integrationsmotor der EU wieder zum Laufen zu bringen und damit mutige Schritte in die Zukunft zu machen.

Bild: own|https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/6/6b/NUTS_2_regions_EU-27.svg [CC BY-SA 2.5 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.5)]