EU-Chemikalienstrategie für Nachhaltigkeit – Potential für mehr Tierschutz oder Papiertiger?

Hintergrund:

Am 14. Oktober 2020 hat die EU-Kommission die Chemikalienstrategie für Nachhaltigkeit (Chemical Strategy for Sustainability – CSS) vorgestellt. Die Strategie ist Teil des „Zero Pollution Action Plan“, der das Ziel hat, die Umweltverschmutzung auf Null zu reduzieren. Der „Zero Pollution Action Plan“ ist ein wichtiger Teil des Europäischen Green Deals und zielt darauf ab, die Bürger*innen und die Umwelt besser vor schädlichen Chemikalien zu schützen und Innovationen zur Entwicklung und Verwendung sicherer und nachhaltigerer Chemikalien anzukurbeln. In der CSS ist auch das Ziel festgeschrieben, die Anzahl der Tierversuche zu verringern und Alternativen zu fördern, doch genaue Maßnahmen fehlen in der Strategie.

Brief an die EU-Kommission. Sieben-Punkte-Aktionsplan zur Förderung tierversuchsfreier Methoden:

Im November 2021 haben die Nichtregierungsorganisation Cruelty Free Europe und der Verband der Europäischen Chemischen Industrie CEFIC zusammen mit mir und meinen Kolleginnen im Europäischen Parlament Tilly Metz, Sirpa Pietikainen und Maria Spyraki einen Brief an die EU-Kommission geschrieben, in dem es um Tierversuche im Rahmen der CSS geht. Unsere Befürchtung ist, dass die vorgeschlagene Verschärfung der Informationsanforderungen, insbesondere im Rahmen der Chemikalienverordnung REACH, dazu führen könnte, dass Abermillionen von Tieren bei Laborversuchen sterben müssten.  Deshalb fordern wir, dass Risikofolgenabschätzungen für Zulassungsverfahren in Zukunft durch neue Ansatzmethoden (New Approach Methodologies – NAMs) ergänzt werden, um Tierversuche weitestgehend zu vermeiden. Denn in der CSS fehlt ein konkreter Aktionsplan, um Alternativen zu Tierversuchen zu fördern und damit die Zahl der nötigen Tierversuche zu verringern. Deshalb haben wir gemeinsam einen Sieben-Punkte-Aktionsplan vorgelegt. In diesem fordern wir, dass neue, tierversuchsfreie Methoden (NAMs) und ihre rechtliche Akzeptanz gefördert werden. Wir wollen:

  1. Angemessene Bewertung der Auswirkungen auf Tierversuche (Umfang und Art der erforderlichen Versuche) in den REACH Risikofolgenabschätzungen für alle Rechtsvorschriften, die sich aus der Chemikalienstrategie für Nachhaltigkeit ergeben
  2. Laufende Überwachung der erforderlichen Tierversuche im Zuge der Umsetzung der CSS und Leistungsindikatoren, die die Verringerung der Zahl der für Tests verwendeten Tiere verfolgen
  3. Ein modernisierter Rechtsrahmen, der flexibel genug ist, um den sich schnell entwickelnden wissenschaftlichen Fortschritten im Bereich der NAMs Rechnung zu tragen, und der prädiktiven NAMs und intelligenten Bewertungsstrategien für die Generierung von Sicherheitsinformationen im Rahmen von REACH wirklich Priorität einräumt.
  4. Klarer Auftrag an die ECHA, systematisch und transparent zu bewerten, ob die Datenanforderungen durch NAMs erfüllt werden können
  5. Verstärkte Anstrengungen zur Erhöhung der regulatorischen Akzeptanz und Umsetzung derjenigen NAMs, in die die EU und die Industrie bereits investiert haben, einschließlich eines transparenten Vergleichs der mit Tierversuchen und NAMs verbundenen Unsicherheiten für die jeweilige Art der Toxizität.
  6. Fortsetzung der gezielten Finanzierung auf Ebene der Kommission und der Mitgliedstaaten
  7. Beschleunigung der Entwicklung zweckdienlicher NAMs auf internationaler (OECD-)Ebene

 

Antwort der EU-Kommission:

In ihrer Antwort vom 27. Januar 2022 begrüßt die Europäische Kommission unsere Initiative und betont, dass die CSS multidisziplinäre Forschung und digitale Innovationen für fortschrittliche Werkzeuge, Methoden und Modelle sowie für Datenanalysekapazitäten fördern werde, um Tierversuche zu ersetzen. Jedoch sei es noch nicht absehbar, dass wissenschaftlich fundierte Methoden verfügbar wären, um Tierversuche in allen Bereichen zu ersetzen. Die EU unterstütze den Übergang zu Innovationen ohne Tierversuche, indem für größtmögliche Transparenz bei der Verwendung von Tieren zu wissenschaftlichen Zwecken gesorgt werde, z.B. indem alle Daten offen zugänglich gemacht würden.

Im Rahmen der laufenden Überarbeitung der REACH-Informationsanforderungen arbeitet ein Team der Gemeinsamen Forschungsstelle (GFS/ Joint Research Centre JRC) und der Europäischen Chemikalienagentur (ECHA) an Vorschlägen für verschiedene Optionen für die Informationsanforderungen und Anpassungmöglichkeiten in den Anhängen zur REACH-Verordnung. Die Änderungen würden auch verschiedene Möglichkeiten umfassen, sich auf NAMs zu stützen. Auch Ergebnisse aus den EU-finanzierten Forschungsprojekten EU-ToxRisk, PrecisionTox, Risk-Hunt3R und Ontox sollen in die Bewertung mit einfließen.

Datenbanken wie IUCLID und IPCHEM, zusammen mit dem CSS Ansatz „Eine Substanz, eine Bewertung“ sollen verhindern, dass es zu Duplikationen von Test komme und könnten damit dazu beitragen, die Anzahl an Tierversuchen zu verringern.

Die EU hat in den letzten 20 Jahren über 800 Mio. € Fördergelder in mehr als 230 Forschungsprojekten für tierversuchsfreie Testmethoden bereitgestellt. In der neuen Förderperiode von Horizon 2020 wurden sieben weitere Forschungsprojekte zu tierversuchsfreien Methoden mit einem Förderbudget von 84 Mio. € bewilligt.

Auf internationaler Ebene  möchten sich die EU-Kommission und die ECHA für Entwicklung und Validierung alternativer Methoden einsetzen, unter anderem bei der OECD, beim United Nations Committee on the Globally Harmonised System of Classification and Labelling of Chemicals (GHS), APCRA (Accelerating the Pace of Chemical Risk Assessment), ICATM (the International Cooperation on Alternative Test Methods), ICCR (International Cooperation on Cosmetics Regulation) und der Veterinary International Conference on Harmonization (VICH).

Die Kommission schreibt auch, sie habe ein E-Learning Programm entwickelt, um Anwender*innen beim Ersatz von Tierversuchen durch verfügbare alternative Methoden zu unterstützen und ihnen bei der rechtssicheren Entwicklung neuer In-Vitro-Methoden (in vitro = im Glas, Ersatz für einen Versuch am lebenden Tier) zu helfen.

 

Wie geht es jetzt weiter? Nächste Schritte und meine Erwartungen.

Die Antwort der Europäischen Kommission umfasst interessante Maßnahmen, die zu einer Verbesserung bei Tierversuchen beitragen könnten. Die verschiedenen Optionen für die überarbeiteten REACH-Informationsanforderungen sollten in die Folgenabschätzung einfließen, die im Jahr 2022 für die angestrebte REACH-Überarbeitung durchgeführt werden soll. Die Auswirkungen dieser Optionen auf die Zahl der Tierversuche sollen im Rahmen dieser Folgenabschätzung bewertet werden. Gemeinsam mit meinen Kolleg*innen werde ich den Prozess genau und kritisch im Blick behalten. Wir werden weiter begleiten, wie sich die Vorschläge der EU-Kommission auf die Anzahl der zu erwartenden Tierversuche auswirken könnten und wo Nachbesserungen nötig werden.